Baugeschichte - Architekturjournalismus

Ulrich Coenen

 

Konstruktionszeichnungen aus den Werkmeisterbüchern

 

Mittelalterliche Architekturtheorie und Werkmeisterbücher

Die Frage, ob es im Mittelalter eine Architekturtheorie gab, ist umstritten. Meiner Ansicht nach handelt es sich aber lediglich um eine Definitionsfrage. Nach Hans Koepfs weitreichender Definition ist Architekturtheorie "das Bestreben, die der Baukunst zu Grunde liegenden Gesetze aus den Bauwerken zu erkennen und darzulegen oder solche a priori aufzustellen." (Hans Koepf, Bildwörterbuch der Architektur, 2. Aufl., Stuttgart 1974, S. 25). Folgt man dieser These gibt es im Mittelalter zweifellos eine Architekturtheorie. Vergleicht man die Ansätze zur Theoriebildung im Mittelalter hingegen mit den großen architekturtheoretischen Werken des Antike und der Renaissance und erhebt diese zum Maßstab wird man zu gegenteiligen Ergebnis kommen.

Seit 1984 habe ich die Werkmeisterbücher als den wohl wichtigsten Beitrag zur mittelalterlichen Architekturtheorie untersucht. Den Begriff Werkmeisterbücher habe ich 1984 in die Baugeschichte eingeführt. Früher wurden diese Bücher als Steinmetzbücher bezeichnet, obwohl sie handwerkliche Steinmetzarbeit gar nicht beschreiben.

Die spätgotischen Werkmeisterbücher, die im 15. und 16. Jahrhundert in Süddeutschland und dem heutigen Österreich verfasst wurden, bilden die älteste Fachliteratur, die von deutschen Architekten geschrieben wurde. Sie beschäftigen sich mit dem Entwurf und der Ausführung von Sakralbauten. Insgesamt sind sechs Bücher erhalten, von denen drei als Drucke und drei als Handschriften vorliegen. Das älteste Exemplar ist das ,,Wiener Werkmeisterbuch", das aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammt. Diese ältesten architekturtheoretischen Schriften der nachantiken Zeit entstanden gleichzeitig mit der Ottersweierer Pfarrkirche und auch in der selben Region wie diese. Damit bieten diese Bücher, die ich in meiner Kölner Magisterarbeit (1984) und meiner Aachener Dissertation (1988) untersucht und ediert habe, einen hervorragenden Ansatz zur Rekonstruktion des spätgotischen Gotteshauses. Der Vergleich der Proportionslehren der Werkmeisterbücher mit der in Süddeutschland und dem heutigen Österreich im 15. und frühen 16. Jahrhundert realisierten Sakralarchitektur in meiner Dissertation hat große Übereinstimmungen zwischen Theorie und Praxis nachgewiesen. Auf dieses Thema wird noch ausführlich eingegangen.

Die Autoren der Werkmeisterbücher sind bis auf eine Ausnahme gotische Architekten, in zeitgenössischen Quellen meist ,,magister operis" oder ,,Werkmeister" genannt, weshalb ich in meiner bereits erwähnten Magisterarbeit den Begriff ,,Werkmeisterbücher" in die Kunstwissenschaft eingeführt habe. Im Gegensatz zum modernen Architekten erhielt der Werkmeister keine akademische Ausbildung an einer Hochschule, sondern kam aus dem Steinmetzhandwerk und musste sich wie jeder Steinmetz einer Steinmetzlehre unterziehen, erwarb anschließend den Meistertitel und war nun berechtigt, als Architekt zu arbeiten.

Die sechs erhaltenen deutschen Werkmeisterbücher lassen sich aufgrund eines inhaltlichen Vergleichs in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe bilden die umfassenden Werkmeisterbücher. Dazu gehören die 1516 von dem kurpfälzischen Hofarchitekten Lorenz Lechler, in Quellen auch Lecher oder Lacher genannt, verfassten "Unterweisungen" sowie ,,Von des Chores Maß und Gerechtigkeit" aus der Zeit um 1500 und das ,,Wiener Werkmeisterbuch" aus dem frühen 15. Jahrhundert, deren Autoren unbekannt sind. Diese drei Lehrbücher haben beinahe universalen Charakter. Sie berücksichtigen die Entwurfslehre für die großen und kleinen Abmessungen des Sakralbauwerks und nennen zum Teil auch praktische Bauregeln, die die Durchführung des Planes auf dem Baugrund betreffen. Einen alle Tätigkeitsbereiche des Werkmeisters umfassenden Inhalt haben sie jedoch nicht. So wird in den drei Büchern, die im Gegensatz zu den als Drucken überlieferten kleinen Werkmeisterbüchern als Handschriften erhalten sind, fast ausschließlich der Sakralbau behandelt. Profanbau, Bauplastik und die Herstellung von Baumaschinen bleiben praktisch unberücksichtigt.

 

Rekonstruktion eines Kirchengrundrisses nach den Regeln des Werkmeisterbuches "Von des Chores Maß und Gerechtigkeit"
Grundriss einer Kirche nach den Bauregeln des Werkmeisterbuches "Von des Chores Maß und Gerechtigkeit" nach Ulrich Coenen

 

Zur Gruppe der kleinen Werkmeisterbücher gehören ,,Das Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit" (1486) und die ,,Geometria Deutsch" (1487/88) des Regensburger Dombaumeisters Matthäus Roriczers und das ,,Fialenbüchlein" (um 1485) von Hans Schmuttermayer; Goldschmiedemeister aus Nürnberg. Die Frage, warum ein Goldschmied ein Werkmeisterbuch verfaßt hat, ist in diesem Fall unschwer zu beantworten. Die kleinen Werkmeisterbücher befassen sich nämlich nur mit sehr speziellen Gebieten der gotischen Architektur, nämlich mit dem Entwurf der Bauteile Fiale und Wimperg und im Sonderfall der ,,Geometria Deutsch" mit geometrischen Hilfskonstruktionen, die der Werkmeister beim Entwurf benötigt. Schmuttermayer hat für sein Buch ein Gebiet der Architektur gewählt, das ihm als Goldschmied vertraut war. Fialen und Wimperge sind Bauteile, die in gotischen Schreinen, die wie Architekturmodelle aussehen, Verwendung finden. Allerdings widmet Schmuttermayer die Schrift ausdrücklich den Werkmeistern.

Mit Lorenz Lechler und Matthäus Roriczer zählen zwei der wichtigsten Architekten der deutschen Spätgotik zu den Autoren der Werkmeisterbücher. Dies macht ihre Bedeutung für den Baubetrieb dieser Zeit klar. Als Baumeister am Heidelberger Hof war Lechler von 1503 bis zu seinem Tode 1538 für den Ausbau des Schlosses verantwortlich. Neben zahlreichen anderen Werken schuf er von 1509 bis 1511 den heute nur als Ruine erhaltenen Ölberg im Speyrer Domkreuzgang. Roriczer entstammte einer bekannten Werkmeisterfamilie, die fast ein Jahrhundert der Dombauhütte in Regensburg vorstand. Dieses Amt übernahm Matthäus Roriczer 1477/78, zuvor war er Dombaumeister in Eichstätt, wo er 1473 urkundlich erwähnt wird. In diesem Jahr wurde er zum Bau der Liebfrauenkirche nach München gerufen, um in einer Expertenkommission über technische Probleme bei der Einwölbung des Baus zu diskutieren.

Die Entwurfslehre der Werkmeisterbücher

Alle Werkmeisterbücher gehen vom gleichen Entwurfssystem aus. Die Abmessungen aller Teile eines Bauwerks stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander und beziehen sich direkt oder indirekt auf das Grundmaß der lichten Chorweite. Die großen Abmessungen, wie Mittelschifflänge oder -höhe, werden arithmetisch festgelegt und mit Hilfe der vier Grundrechenarten ermittelt. Sie sind stets ein Vielfaches oder ein Bruchteil der lichten Chorweite. Kleine Abmessungen werden geometrisch bestimmt. Die Proportionierung von Fialen, Wimpergen und Giebeln erfolgt mittels Quadratur oder Triangulatur. Grundlage für die Konstruktionen ist aber auch hier die lichte Chorweite.

Die Maße aller Bauteile stehen also in den Werkmeisterbüchern in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Dies ist von künstlerisch-ästhetischer Bedeutung und bewirkt ein Harmonie des Bauwerks. Gleichzeitig stellen die Abhängigkeiten der verschiedenen Maße statische Gesetzmäßigkeiten dar. Wenn alle Abmessungen eines Gebäudes in einer bestimmten, in jahrhundertelanger Tradition überprüften Relation zueinander und zu einer Grundgröße stehen, wird dadurch ein stabiles Tragwerk gewährleistet.

Im Unterschied zu den kleinen Werkmeisterbüchern, die nur ein spezielles und sehr begrenztes Themengebiet behandeln und der fachliterarischen Gattung der Büchlein zuzuordnen sind, enthalten die drei umfassenden Werkmeisterbücher eine ungleich größere Anzahl von Themen, die ohne eine konsequent konzipierte Gliederung aufeinander folgen. In der Germanistik werden die einzelnen Bauregeln als Rezepte, die Sammlung als Rezeptar bezeichnet. Keines der umfassenden Werkmeisterbücher ist im Original erhalten, von allen existieren nur spätere Abschriften. Von Lechlers ,,Unterweisungen" sind sogar drei Abschriften mit sehr unterschiedlichem Umfang erhalten. Die lose Aneinanderreihung von Bauregeln, die dem Autor die Möglichkeit gibt, sein Buch ständig zu ergänzen, und die Tatsache, daß kein Original und damit wahrscheinlich auch kein vollständiges Exemplar vorliegt, machen deutlich, daß neben den in den umfassenden Werkmeisterbüchern genannten Proportionen höchstwahrscheinlich weitere in der Spätgotik gebräuchlich waren.

Architekturtheorie und Praxis

In drei Aufsätzen habe ich 1999 und 2000 zwei Pfarr- und eine Wallfahrtskirche aus der Spätgotik im Hinblick auf ihre Übereinstimmungen mit den Proportionslehren der Werkmeisterbücher untersucht (siehe Literaturvrezeichnis am Ende der Seite). Ein Vergleich der Entwurfslehre der Werkmeisterbücher mit der im 15. und frühen 16. Jahrhundert in Süddeutschland ausgeführten Sakralarchitektur ist problematisch. Um die in den Büchern genannten Proportionen zu prüfen, ist eine Konfrontation mit den originalen Entwurfsplänen der Kirchen notwendig, die aber in der Regel nicht erhalten sind. Bauaufnahmen bieten nur bedingt eine Basis für eine Gegenüberstellung von Architekturtheorie und Praxis, weil offen bleibt, wie groß die Abweichungen zwischen Entwurf und ausgeführtem Bauwerk sind. 

Die Werkmeisterbücher entstanden in einem Zeitraum und in einem Gebiet, in dem zahlreiche bedeutende Kirchen errichtet wurden. Die Anzahl der ausgeführten Projekte im Untersuchungszeitraum ist beachtlich, die Zahl der kleineren Bauten, zu denen auch die Ottersweierer Kirche zählt, kaum zu beziffern. Die in der Spätgotik entstandenen Kirchen bilden den bei weitem größten Bestand gotischer Architektur in Deutschland. Entscheidend hierfür war die wachsende Wirtschaftskraft der Städte. Weitaus größer als die Zahl der Stadtkirchen ist die der mitunter in erstaunlichen Dimensionen errichteten Pfarr-, Filial- und Wallfahrtskirchen auf dem Land. Die Pfarrkirche St. Johannes der Täufer in Ottersweier, die Pfarrkirche St. Peter und Paul in Bühl, von der heute nur noch der Westturm aus dem Jahr 1524 besteht, und die ab 1484 errichtete Wallfahrtskirche Maria Linden in Ottersweier, von der der Chor erhalten blieb, sind Beispiele für den Bauboom in der ländlichen Region.

 

Rekonstruktion eines Kirchengrundrisses nach den Regeln des Werkmeisterbuches "Von des Chores Maß und Gerechtigkeit"
Grundriss einer kleinen Dorfkirche nach den Regeln der Werkmeisterbücher durch Ulrich Coenen

 

In meiner Dissertation habe ich einen grundsätzlichen Vergleich der in den Werkmeisterbüchern beschriebenen Kirchentypen mit den spätgotischen Sakralbauten Süddeutschlands vorgenommen. Alle drei umfassenden Werkmeisterbücher kennen als Querschnittform die Halle, die im 15. und frühen 16. Jahrhundert der dominierende Bautypus in Süddeutschland war. Herausragende Vertreter sind das Langhaus von St. Martin und die Heilig-Geist-Spitalkirche in Landshut (beg. 1407), der Chor der Franziskanerkirche in Salzburg (beg. 1407), St. Jakob in Wasserburg (beg. 1409), St. Nikolaus in Neuötting (beg. 1410), St. Martin in Amberg (beg. 1421), St. Georg in Nördlingen (beg. 1427), der Chor von St. Lorenz in Nürnberg (beg. 1439), die Stadtpfarrkirche in Steyr (beg. 1443), die Liebfrauenkirche in München (beg. 1468) und die Stiftskirche in Altötting (beg. 1499). Die ,,Unterweisungen" von Lorenz Lechler beschreiben neben der Halle auch Staffelhalle und Basilika, die im 15. und frühen 16. Jahrhundert relativ selten sind. Bedeutende Staffelhallen sind die Stiftskirche in Stuttgart (beg. 1433), St. Stephan in Braunau (beg. 1439), St. Mariä Himmelfahrt in Donauwörth (beg. 1444) und St. Georg in Tübingen (beg. 1470). Unter den Basiliken sind hervozuheben: das Pfarrmünster in Bern (beg. 1421) das Münster in Überlingen (beg. 1424), St. Ulrich und Afra in Augsburg (beg. 1474), St. Georg in Augsburg (beg. 1490) und das Langhaus von St. Barbara in Kuttenberg (beg. 1512). Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. 

Werkmeisterbücher und mittelbadische Kirchen

In meinem Aufsatz ,,Der Einfluss der Werkmeisterbücher auf den Entwurf der spätgotischen Pfarrkirche St. Peter und Paul in Bühl", der in Band 13 der vom Stadtgeschichtlichen Institut herausgegeben ,,Bühler Heimatgeschichte" erschienen ist, habe ich 1999 erstmals nachgewiesen, dass trotz der bereits angesprochenen Probleme, ein detaillierter Vergleich der in den Werkmeisterbüchern dargestellten Proportionslehren mit spätgotischen Sakralbauwerken durchaus möglich und sogar ausgesprochen aufschlussreich ist. Auf diese Weise habe ich nicht nur festgestellt, daß die spätgotische Bühler Pfarrkirche, die heute als Rathaus dient, den architekturtheoretischen Forderungen der Werkmeisterbücher weitgehend entspricht, sondern auch einen Fehler bei der Übertragung des Entwurfs auf den Baugrund nachgewiesen, der es den mittelalterlichen Steinmetzen schließlich unmöglich machte, das ursprüngliche Konzept zu realisieren. Den Einfluss   der Werkmeisterbücher auf den Entwurf der Ottersweierer Pfarrkirche St. Johannes der Täufer konnte ich im selben Jahr ebenfalls eindeutig nachweisen. Der noch bestehende Chor von 1517 und die in Form einer Bauaufnahme überlieferte nördliche Umfassungsmauer des gleichzeitigen Langhauses, die wiederum Rückschlüsse auf das gesamte Erscheinungsbild zuläßt, zeigen ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den in den drei umfassenden Werkmeisterbüchern genannten Proportionslehren für den Sakralbau. Die lichte Chorweite war offensichtlich auch in Ottersweier Grundmaß für das gesamte Gebäude. Bei der Chorhöhe orientierte sich der Architekt an den in den ,,Unterweisungen" und ,,Von des Chores Maß und Gerechtigkeit" gemachten Angaben, der 5/8 Schluß des Chores wird im ,,Wiener Werkmeisterbuch" als vorbildlich genannt. Alle umfassenden Werkmeisterbücher kennen das Verhältnis 1:10 von lichter Chorweite zur Wandbreite des Chores, wie es bei St. Johannes der Täufer nachweisbar ist. Die Proportionierung der Langhausjoche erfolgte in Ottersweier nach den Regeln des ,,Wiener Werkmeisterbuches", bei der Gestaltung der Strebepfeiler orientierte sich der Architekt an Lechlers Vorgaben. Selbst Details wie die Proportionierung der Fensterpfosten und der Gewölberippen stimmen mit den Regeln der Werkmeisterbücher, in diesem Fall der ,,Unterweisungen", überein.

Eine Untersuchung der Wallfahrtskirche Maria Linden in Ottersweier, deren spätgotischer Chor erhalten ist, folgte im Jahr 2000. Auch hier zeigte sich ein hohes Maß an Übereinstimmungen zwischen den Abmessungen des Chores und den in den Werkmeisterbüchern genannten Proportionen, die es erlaubten, eine Rekonstruktion des spätgotischen Langhauses zu wagen, das im 18. Jahrhundert durch einen größeren barocken Neubau ersetzt wurde.

 

Kirchengrundriss nach den Regeln des "Wiener Werkmeisterbuches"
Grundriss einer großen Hallenkirche nach den Regeln der Werkmeisterbücher durch Ulrich Coenen

 

Auf Grund meiner Forschungsergebnisse kann man davon ausgehen, dass die Proportionslehren dieser Schriften beim Entwurf von Sakralbauten im 15. und 16. Jahrhundert zumindest in Mittelbaden eine gewisse Allgemeingültigkeit besaßen. Während es sich bei St. Peter und Paul und Marie Linden um komplette Neuschöpfungen des Spätmittelalters handelt, nimmt St. Johannes der Täufer eine Sonderstellung ein. Bei dieser Chorturmkirche, einem für die Ortenau charakteristischen Bautypus, wurden der romanische Turm und offensichtlich auch das Langhaus in den Bau von 1517 integriert. Obwohl der Architekt bei seinem Entwurf Rücksicht auf das bestehende Gebäude nehmen musste und durch dieses in seiner Gestaltungsfreiheit eingeschränkt wurde, blieben die Proportionslehren der Werkmeisterbücher für ihn maßgebend. Dies ist von großer Bedeutung, denn damit ist erstmals der Nachweis gelungen, dass diese Gesetzmäßigkeiten nicht nur bei vollständigen Neubauten, sondern auch bei der Erweiterung bestehender Kirchen Anwendung fanden. Gerade für die Ortenau als Chorturmlandschaft ist dieses Ergebnis wichtig, denn die Erweiterung dieser kleinen Gotteshäuser, die zu einem beachtlichen Teil der Romanik und Hochgotik angehören, war aufgrund der steigenden Bevölkerungszahlen im 15. und 16. Jahrhundert oft unvermeidlich.

Einfluss der Renaissance

In meinem jüngsten im Literaturverzeichnis unten erwähnten Aufsatz "Architekturtheorie und Entwurfslehre im Mittelalter" habe ich weitere Überlegungen auf der Basis jünger Literatur angestellt.  Hubertus Günther hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Architektur des 15. und 16. Jahrhunderts jenseits der Alpen ebenso wie in Italien im Zeichen eines neuen Rationalismus stand. (Hubertus Günther: Die deutsche Spätgotik und die Wende von Mittelalter zur Neuzeit. In: Kunsthistorische Arbeitsblätter. Zeitschrift für Studium und Hochschulkontakt 7/8 (2000), S. 49-68.) (Ein Kennzeichen hierfür ist die Schriftlichkeit im Bereich der „artes mechanicae“, die bereits herausgestellt wurde. Die Wiederentdeckung der „Zehn Bücher über Architektur“ Vitruvs 1415 und die architekturtheoretischen Werke der italienischen Renaissance sind zeitgleich mit den Werkmeisterbüchern anzusetzen. Leon Battista Alberti verfasste „De Re Aedificatoria“ zwischen 1443 und 1452, Filarete schrieb seinen Traktat zwischen 1461 und 1464, Francesco di Giorgio Martinis Schriften entstanden 1465 bis 1492. Für die Werkmeisterbücher und die architekturtheoritischen Schriften der Renaissance ist – unabhängig davon, ob sie gotische oder antikische Formen beschreiben - charakteristisch, dass sie die Ratio der Architektur in den Vordergrund stellen. Die Autoren der drei umfassenden Werkmeisterbücher demonstrieren, wie man mit Hilfe eines Moduls, nämlich der lichten Chorweite, eine Kirche entwirft, indem man mit arithmetischen und geometrischen Methoden die großen und kleinen Abmessungen des Bauwerks festlegt. Dieses in sich geschlossene Proportionssystem erinnert Günther an Albertis Prinzip der Concinnitas, der Ausrichtung aller Teile nach einer einheitlichen Gesetzmäßigkeit als Grundlage aller Schönheit, auch wenn die Formen, die sich im Einzelnen ergeben, noch so unterschiedlich ausfallen.

Steven Surdèl weist darauf hin, dass Vitruv und die Autoren der drei umfassenden Werkmeisterbücher vom selben System ausgehen, sie bedienen sich eines Moduls. ( Steven Surdèl: Vitruvius in de middeleeuwen: ee Verkenning. In Koninklijke Nederlandse Oudheidkundige Bond Bulletin, 97. Jahrgang, Nr. 2 (1998), S. 51-68.) In den Werkmeisterbüchern ist die lichte Chorweite Grundmaß für den Kirchenbau, in seinem Dritten Buch nennt Vitruv den Abstand zwischen den Säulen als Grundmaß des Tempels. Die Parallelen beschränken sich aber nicht auf das System. Es gibt sogar fast wörtliche Übereinstimmungen zwischen Lechlers „Unterweisungen“ und Vitruvs „Zehn Büchern über Architektur“. Die Angaben die Vitruv beispielsweise im vierten Kapitel seines dritten Buches über die Fundamentierung von Tempeln macht, haben sehr große Ähnlichkeit mit Lechlers Bauregel zu diesem Thema. [iv] Diese erstaunlichen Parallelen lassen nur den Schluss zu, dass Lechler Vitruvs Werk gekannt haben muss. Stefan Schuler hat nachgewiesen, in welchem Umfang der römische Architekturtheoretiker im gesamten Mittelalter rezipiert wurde [v], sein Buch war Lechler also zweifellos zugänglich.

Im Entwurfssystem der Werkmeisterbücher beziehen sich - wie oben festgestellt - alle Abmessungen aufeinander und in den drei umfassenden Büchern direkt oder indirekt auf das Grundmaß der lichten Chorweite. Betrachtet man Köpfs eingangs zitierte Definition des Begriffs Architekturtheorie, sind die Werkmeisterbücher ohne Zweifel architekturtheoretische Schriften, denn sie stellen der Baukunst zu Grunde liegende Gesetze auf. Ein Unterschied zwischen den Autoren der Spätgotik und der Antike bzw. der Renaissance ist jedoch gravierend. Den Werkmeisterbüchern fehlt ein philosophischer Überbau der Entwurfslehre. Im Gegensatz zu Vitruv und seinen Nachfolgern in der frühen Neuzeit begründen sie die von ihnen dargelegten Gesetzmäßigkeiten nicht. Weder göttliche Ordnungsprinzipien noch die Naturgesetze werden als Basis für die Proportionslehre genannt. Die Schriften des Abtes Suger von St. Denis aus dem 12. Jahrhundert, die Andreas Speer und Günther Binding ediert haben, zeigen, dass die Frühgotik einen theologischen Überbau der Entwurfslehre kannte und das Kirchengebäude als Abbild des Himmels angesehen wurde. (Andreas Speer/Günther Binding (Hrsg.): Abt Suger von Saint-Denis. Ausgewählte Schriften: Ordinatio, De consecratione, De administratione, Darmstadt 2000.) Auch den Menschen im Spätmittelalter war zweifellos bewusst, dass der Sakralbau Abbild des Himmels ist und seine Proportionen theologische Grundlagen haben. Im Jahr 1400 wollten die Mailänder – wie im Zusammenhang mit den Dombauprotokollen bereits erwähnt - den Vierungsturm des Doms mit vier Ecktürmen verstreben. Solche entsprächen dem Quadrat nach der Ordnung der Geometrie und erhöhten die Stärke und Schönheit des Turms, lautete die Begründung. Die Türme befolgten gleichsam das Vorbild des Paradieses, wie es die Apokalypse schildere, wo Gott zwischen den vier Evangelisten throne.

Neben diesem theologischen Überbau gibt es aber im 15. und frühen 16. Jahrhundert, als der Humanismus auch in Deutschland Verbreitung fand, weitere Einflüsse. Die Autoren der Werkmeisterbücher wurden von den italienischen Architekturtheoretikern zu ihren Werken inspiriert. Zwar bleiben sie, wie bereits dargestellt, formal den fachliterarischen Gattungen des Mittelalters, Consilium, Büchlein und Rezeptar, treu, zeigen aber klar Gesetzmäßigkeiten, nach denen der gesamte Kirchenbau bzw. einzelne Bauteile (Fiale und Wimperg) entworfen werden. Selbst die Grundlagen, und zwar geometrische Hilfskonstruktionen, erläutert Roriczer in seiner „Geometria Deutsch“. Als Quelle ihres Wissens nennen die Autoren aller Bücher die „Alten“, die in der kunstwissenschaftlichen Literatur, ohne nähere Begründung, als die Architekten der Parlerzeit gedeutet werden. Diese Vermutung ist sicherlich falsch. Vielmehr muss die Berufung auf die „Alten“ als Stilmittel gesehen werden. Wenn sich die Architekturtheoretiker der Renaissance auf die Antike und damit auf die bedeutende Tradition Italiens beziehen, wollten die Verfasser der Werkmeisterbücher dem nicht nachstehen. Nördlich der Alpen entstanden im Mittelalter große Bauwerke, wie der italienische Humanist und spätere Papst Enea Silvio Piccolomini (Pius II.) bezeugte. Er wurde 1443 an den Hof Kaiser Friedrichs III. berufen und schrieb, aufbauend auf die 1455 wiederentdeckte „Germania“ des Tacitus 1457/58 ein ebenfalls „Germania“ genanntes Traktat über die Deutschen. In diesem behauptet er, die Deutschen würden alle anderen Völker in der Architektur übertreffen und gibt damit den deutschen Humanisten eine ideologische Grundlage, die mittelalterlichen Architektur zu würdigen.

Mehr als Lehrbücher

Die Werkmeisterbücher haben sicherlich nicht ausschließlich als Lehrbücher für angehende Architekten gedient. Dass Lorenz Lechler seine „Unterweisungen“ seinem Sohn Moritz, der dem Vater als kurpfälzischer Hofarchitekt folgte, widmet, ist ein Hinweis auf den Lehrbuchcharakter dieser Schriften. Immerhin liegen aber drei der insgesamt sechs bekannten Werkmeisterbücher als Drucke vor und wenden sich damit an ein sehr viel größeres, gebildetes Publikum, dem die rationellen Grundlagen der Baukunst nahe gebracht werden sollten. Matthäus Roriczer widmet sein „Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit“ seinem Mäzen, dem Eichstädter Bischof Wilhelm von Reichenau, dem ersten Kanzler der 1472 eröffneten Ingolstädter Universität und Vorstand der deutschen Bauhütten im Elsass, Schwaben und Franken.

Dass es in den Werkmeisterbüchern nicht nur um die Ausbildung des Architektennachwuchses geht, verdeutlicht die Tatsache, dass sich mit Hans Schmuttermayer ein Goldschmiedemeister in die Schar der Autoren reiht. Der widmet sein Buch ausdrücklich den Architekten und ist damit im Zusammenhang mit zahlreichen Baumeistern der italienischen Renaissance zu sehen, die keine Ausbildung als Architekt hatten sondern Quereinsteiger aus anderen Bereichen der bildenden Kunst waren. Brunelleschi, der die Kuppel des Florentiner Domes schuf, war wie Schmuttermayer Goldschmied, der Mailänder Dombaumeister Filarete Bildhauer. Diese Parallelen lassen Schmuttermayer in einem neuen Licht erscheinen. Der Nürnberger Kunsthandwerker beschreitet offensichtlich ganz bewusst einen Weg, den seine italienischen Kollegen vorgezeichnet haben.

Wenn ich alle Beobachtungen zusammenfasse, lässt sich feststellen, dass es im Mittelalter sehr wohl eine Architekturtheorie gab. Ansätze einer Theoriebildung sind bereits in der Früh- und Hochgotik bei Villard de Honnecourt und Abt Suger von St. Denis zu beobachten. Beeinflusst durch den Humanismus wurde in den Werkmeisterbüchern des 15. und frühen 16. Jahrhunderts eine sehr praktisch orientierte Entwurfslehre für den Kirchenbau entwickelt, der zwar ein philosophischer oder theologischer Überbau fehlt, die aber dennoch von einer neuen Ratio geprägt wird. Dass die architekturtheoretischen Schriften des Spätmittelalters in der Kunstwissenschaft bislang nur wenig Beachtung fanden, steht in einem engen Zusammenhang mit ihren traditionellen fachliterarischen Formen, die sie aus moderner Sicht als schlichte Gebrauchsanleitungen erscheinen lassen. Sie darauf zu beschränken wäre ein Fehler; die Werkmeisterbücher stehen vielmehr an der Schwelle zu einer neuen Epoche und zeigen wie humanistische Ideen und mittelalterliche Formen verschmelzen.

 

Literatur

Ulrich Coenen: Die deutschen Werkmeisterbücher des 15. und 16. Jahrhunderts, Köln 1984.

Ulrich Coenen: Die spätgotischen Werkmeisterbücher in Deutschland - Untersuchung und Edition der Lehrschriften für Entwurf und Ausführung von Sakralbauten = Beiträge zur Kunstwissenschaft, Bd. 35, 2. Auflage, München 1990.

Ulrich Coenen: Der Einfluss der Werkmeisterbücher auf den Entwurf der spätgotischen Pfarrkirche St. Peter und Paul in Bühl. In: Bühler Heimatgeschichte 13 (1999).

Ulrich Coenen: Von des Chores Maß und Gerechtigkeit - Der Einfluss der spätgotischen Werkmeisterbücher auf den Ausbau von Chorturmkirchen in der Ortenau am Beispiel der Pfarrkirche St. Johannes der Täufer in Ottersweier. In: Die Ortenau - Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Mittelbaden 79 (1999), Seite 372 - 411.

Ulrich Coenen: Die spätgotische Wallfahrtskirche Maria Linden in Ottersweier und ihre Proportionen. In: In: Heimatbuch 2000 Landkreis Rastatt, 39. Jahrgang (2000), Seite 45 - 61.

Ulrich Coenen: Architekturtheorie und Entwurfslehre im Mittelalter. In: Ralph Johannes (Hrsg.), Entwerfen - Architektenausbildung in Europa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2009, S. 196-214.

 
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